Einleitung
Verletzungen von Wirbelsäule und Rückenmark gehören zu den häufigsten Problemen, mit denen Allgemeinpraktiker*innen, Neurolog*innen und Chirurg*innen konfrontiert werden, wobei Traumata und Erkrankungen der Zwischenwirbelscheiben (IVDD; Intervertebral Disc Disease) die beiden häufigsten Ätiologien darstellen. Bei Katzen kommen IVDD eher selten vor, während Traumata der Wirbelsäule bei dieser Spezies häufiger anzutreffen sind und eine Prävalenz von 0,02-0,12 % aufweisen (1, 2). Bei Hunden machen IVDD mehr als 2 % aller diagnostizierten Erkrankungen aus (3). Andere Ursachen für Störungen im Bereich von Wirbelsäule und/oder Rückenmark sind das Wobbler-Syndrom, Diskospondylitis, fibrokartilaginöse Embolie (FCE), Neoplasien und degenerative Myelopathie. Bei vielen Wirbelsäulenerkrankungen kann die Prognose hinsichtlich einer funktionellen Wiederherstellung durch eine chirurgische Behandlung verbessert werden, bei anderen sind chirurgische Eingriffe dagegen nicht angezeigt oder nicht durchführbar. Selbst bei präziser Diagnose und spezifischer Therapie (z. B. Chirurgie) können sich Wirbelsäulenpatienten im Falle einer unzureichenden Nachsorge und Pflege nicht optimal erholen und vermeidbare Beschwerden, Schmerzen oder sogar tödliche Komplikationen entwickeln. Dieser Artikel beleuchtet die wichtigsten Aspekte der unterstützenden Behandlung und Pflege, mit dem Ziel, die Rehabilitation von Wirbelsäulenpatienten erfolgreicher und „humaner“ zu gestalten.
Schmerzkontrolle
Bei Wirbelsäulenpatienten basieren Beschwerden und Schmerzen häufig auf einer komplexen Kombination von Verletzungen des Rückenmarks oder der Nervenwurzeln (neuropathische Schmerzen), Myalgien oder chirurgisch induzierten Traumata. Ein klinischer Vorbericht und eine sorgfältige klinische Untersuchung für eine präzise Identifizierung der Schmerzauslöser sind die Voraussetzungen für die Erstellung eines individuellen, patientenspezifischen Schmerzbehandlungsprotokolls. Da sich diese komplexen Schmerzen oft nicht mit einem einzigen Arzneimittel oder einer einzigen therapeutischen Modalität erfolgreich kontrollieren lassen, ist in vielen Fällen eine multimodale Behandlungsstrategie zu bevorzugen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass der Einsatz von Gabapentin in Kombination mit einem Opioid oder nichtsteroidalen Antiphlogistika (NSAIDs) oder Antidepressiva in der Humanmedizin bei der Behandlung neuropathischer Schmerzen positive Ergebnisse zeigt (4). Häufig bei Tieren mit spinalen Schmerzen angewendete Arzneimittel werden in Tabelle 1 beschrieben.
- NSAIDs sind in diesen Fällen aufgrund ihrer analgetischen Eigenschaften hilfreich, entweder monotherapeutisch oder als Teil eines multimodalen analgetischen Behandlungsplans. Zu den bei Hunden häufig eingesetzten NSAIDs gehören Aspirin, Carprofen, Etodolac, Meloxicam, Ketoprofen, Deracoxib, Firocoxib, Meclofenaminsäure und Tolfenaminsäure. NSAIDs sollten jedoch ausschließlich bei normotensiven, gut hydrierten Patienten mit physiologischer hepatischer, renaler, gastrointestinaler und hämostatischer Funktion in Betracht gezogen werden. Mit Kortikosteroiden sollten NSAIDs nicht kombiniert werden, und zwei oder mehr NSAIDs sollten nicht gleichzeitig verabreicht werden.
- Acetaminophen (Paracetamol) gilt traditionell nicht als NSAID, da es keine signifikante antiinflammatorische Wirkung aufweist. Die analgetischen und fiebersenkenden Wirkungen dieses Arzneistoffes hängen mit einer COX-3-Hemmung zusammen. Bei Hunden wird Acetaminophen gelegentlich zu analgetischen Zwecken als Einzelmedikament oder in Kombinationspräparaten mit Codein, Hydrocodon oder Tramadol eingesetzt. Kontraindiziert ist Acetaminophen in jeder Dosierung bei Katzen, da es bei dieser Spezies tödliche Nebenwirkungen hat.
- Opioide gehören zu den wirksamsten in der Tiermedizin eingesetzten Analgetika. Sie interagieren mit verschiedenen Typen und Subtypen von Opioidrezeptoren im zentralen und peripheren Nervensystem. Zum einen erfolgt dadurch eine direkte Hemmung der von den Dorsalhornzellen ausgehenden aufsteigenden Übertragung nozizeptiver Informationen, und zum anderen eine Aktivierung der vom Gehirn zum Rückenmark deszendierenden Schmerzhemmung. Darüber hinaus interagieren Opioide mit Opioidrezeptoren in sensorischen Nerven, so dass sie neben einer zentralen auch eine periphere Analgesie unterstützen können (5).
- Gabapentin und Pregabalin sind synthetische verzweigtkettige Aminosäuren, die die durch Kalziumeinstrom vermittelte Freisetzung von exzitatorischen Neurotransmittern wie Substanz P hemmen. Gabapentin und Pregabalin werden bei Menschen und Tieren als Anti-Anfallsmedikamente eingesetzt, beide Wirkstoffe reduzieren aber auch neuropathische Schmerzen, wobei Pregabalin die stärkere analgetische Wirkung hat (6). In der Tiermedizin hat die Anwendung von Gabapentin über die vergangenen Jahre in signifikantem Maße zugenommen. Klinischen Studien zur Evaluierung von Sicherheit und Wirksamkeit von Gabapentin als Analgetikum bei Hunden gibt es zwar nicht, anekdotisch wird der Wirkstoff aber zur Behandlung zahlreicher Arten von Schmerzen eingesetzt, einschließlich Nacken- und Rückenschmerzen bei Tieren mit IVDD.
- Amantadin ist ein Arzneistoff, der unter anderem N-Methyl-d-Aspartat (NMDA)-Glutamat-Rezeptoren blockiert. Diese Rezeptoren spielen eine wichtige Rolle bei der Sensibilisierung im zentralen Nervensystem und bei der Hyperalgesie. Amantadin kann die analgetischen Effekte von NSAIDs, Opioiden oder Gabapentin/Pregabalin verstärken (7).
Tableau 1. Médicaments analgésiques couramment utilisés lors de douleur d’origine médullaire
Arzneimittel |
Wirkungsmechanismus |
Dosierung |
Mögliche Nebenwirkungen |
Meloxicam |
COX-2-Hemmer |
Hunde: Anfangsdosis 0,2 mg/kg, PO/SC, gefolgt von 0,1 mg/kg PO alle 24 Std.,
Katzen: gleiche Dosierung bis zu 3 Tage |
GI-Symptome |
Carprofen |
Schwacher COX-Hemmer |
Hunde: 4,4 mg/kg alle 24 Std. oder aufgeteilt alle 12 Std., PO |
Selten GI-Symptome |
Firocoxib |
Hochselektiver COX-2-Hemmer |
Hunde: 5 mg/kg PO, alle 24 Std. |
Selten GI-Symptome |
Robenacoxib |
Hochselektiver COX-2-Hemmer |
Hunde: 2 mg/kg, PO, alle 24 Std.
Katzen: 1 mg/kg, PO, alle 24 Std. für bis zu 3 Tage |
Selten GI-Symptome |
Acetaminophen |
Spezifische COX-3-Hemmung |
Nur bei Hunden: 10-15 mg/kg, PO/IV, alle 8 Std. |
GI-Symptome, Methämoglobinämie |
Gabapentin |
Hemmt die Neurotransmission |
Hunde und Katzen: 10-30 mg/kg PO, alle 8-12 Stunden |
Sedierung |
Pregabalin |
Hemmt die Neurotransmission |
Hunde und Katzen: 2-4 mg/kg PO, alle 8-12 Std. |
GI-Symptome |
Amantadin |
Suppression von NMDA-Rezeptoren im ZNS |
Hunde und Katzen: 3-5 mg/kg PO, alle 24 Std. |
Keine Berichte |
Buprenorphin |
Moderate Analgesie |
Hunde und Katzen: 0,01-0,03 mg/kg IM/IV, alle 6-8 Std. |
Im Allgemeinen geringgradig |
Butorphanol |
Gering- bis mittelgradige Analgesie, Kappa-Agonist, µ-Antagonist |
Hunde und Katzen: 0,2-0,4 mg/kg IM/IV |
Sedierung |
Methadon |
Tiefe Analgesie
Voller µ- und kappa-Agonist |
Hunde und Katzen: 0,2-0,4 mg/kg IV/IM |
Erbrechen |
Neurologie der Harnblase
Einer der wichtigsten Aspekte der unterstützenden Behandlung und Pflege bei Patienten mit Paralyse ist die Beurteilung der Fähigkeit zur effektiven Miktion. Harnretention wird leider allzu oft übersehen, weil man sich in erster Linie auf die sehr viel auffälligere Dysfunktion der Gliedmaßen konzentriert. Zudem kann eine Überlaufinkontinenz als willkürliche Miktion missverstanden werden. Mögliche Folgen für betroffene Patienten sind Unbehagen, eine Prädisposition für Harnwegsinfektionen (UTI) sowie eine chronische Blasenüberdehnung und eine Detrusoratonie. Im Rahmen der Aufklärung und Schulung von Halter*innen betroffener Tiere muss daher immer auch auf die Notwendigkeit eines guten Blasenmanagements hingewiesen werden. Techniken zur manuellen Entleerung der Blase (wenn diese möglich ist) können bei der Entlassung des Patienten aus der stationären Behandlung vermittelt werden, müssen in der Regel aber anlässlich der Nachkontrollen überprüft und weiter erläutert werden. Als Faustregel gilt, dass die meisten Hunde und Katzen mit der Wiederherstellung der willkürlichen/zielgerichteten appendikulären motorischen Funktion (auch wenn noch keine Gehfähigkeit besteht) auch die willkürliche Kontrolle über ihre Miktion wiedererlangen.
Die Miktion, also der Prozess der Speicherung und periodischen Ausscheidung von Harn, umfasst eine komplexe Reihe neuraler Pathways, die die Harnblase und die Harnröhre kontrollieren. Das primäre Kontrollzentrum für die Miktion befindet sich in der Pons. Vom Miktionszentrum ausgehende Nervenbahnen verlaufen im Rückenmark in kaudale Richtung zu den lumbalen und sakralen Rückenmarkssegmenten, welche die Blase und die Harnröhre innervieren. Je nach Lokalisation der Wirbelsäulenverletzung unterscheidet man zwei Typen von Harnretention.
Die Upper-Motor-Neuron-Blase (UMN-Blase)
In den meisten Fällen von Bandscheibenextrusionen befindet sich die spinale Läsion kranial der sakralen Rückenmarkssegmente. Bei hochgradigen Läsionen kommt es zu einer Beeinträchtigung der aufsteigenden sensorischen Bahnen und der absteigenden motorischen Bahnen, die für die Miktion verantwortlich sind. Dabei kommt es aufgrund des Verlusts hemmender Einflüsse durch das Gehirn zur einer Erhöhung des Tonus von Detrusor und Urethra. Die Blase wird übermäßig gedehnt, ist palpatorisch derb, und es besteht ein erheblicher mechanischer Widerstand gegen eine manuelle Blasenentleerung. Es kann aber auch zu einer unregelmäßigen Harnleckage aus einer übermäßig vollen Blase kommen (Überlaufinkontinenz). Nach etwa zwei Wochen entwickeln diese Patienten in der Regel eine mehr oder weniger stark ausgeprägte „Reflexentleerung“, die immer noch unwillkürlich erfolgt und oft durch abdominalen Druck, z. B. beim Anheben des Patienten, ausgelöst wird. Halter*innen betroffener Tiere interpretieren diese Reflexentleerung oft als Hinweis auf eine willkürliche Miktion, tatsächlich handelt es sich aber um eine unvollständige Entleerung der Blase.
Die Lower-Motor-Neuron-Blase (LMN-Blase)
Die LMN-Blase kommt bei Patienten mit Bandscheibenextrusion seltener vor. Hier betrifft die Läsion die kaudalen lumbalen Rückenmarkssegmente oder die Sakralnerven. Dies führt zu einem Verlust der willkürlichen Miktion, begleitet von einem verminderten Tonus des Detrusormuskels und der Urethra. Im typischen Fall fühlt sich die Blase palpatorisch schlaff an und lässt sich leicht entleeren. Ist die Blase entsprechend erweitert, kommt es häufig zu Überlaufinkontinenz, und betroffene Patienten scheiden Harn oft spontan aus oder als Reaktion auf abdominalen Druck. Patienten mit einer LMN-Blase sind für Halter*innen deutlich einfacher zu handhaben, da für die manuelle Blasenentleerung weniger Anstrengung erforderlich ist.
Behandlung der Harnretention
Sämtliche Patienten mit Parese sollten engmaschig auf eine potenzielle Beeinträchtigung der Miktion überwacht werden, da eine Harnretention das Risiko von Harnwegsinfektionen erhöht, aber auch die Gefahr einer Überdehnung der Blase oder einer persistierenden Atonie birgt (8, 9). Wie oben erläutert, kann ein Harnverlust aufgrund eines verminderten Harnröhrentonus (LMN-Blase) oder infolge einer Überlaufinkontinenz (UMN-Blase) auftreten. Zur Beurteilung der Blasenfunktion bei einem paretischen Patienten bringt man ihn nach draußen und gibt ihm ausreichend Zeit für eine willkürliche Miktion. Selbst wenn der Patient dann Harn absetzt, sollte das Residualvolumen in der Blase mit Hilfe einer Ultraschalluntersuchung ermittelt werden; das physiologische Residualvolumen nach erfolgtem Harnabsatz beträgt 0,2-0,4 ml/kg (normalerweise < 10 ml insgesamt) (8).
Bei Patienten, die keinen willkürlichen Harnabsatz zeigen oder ein übermäßiges Residualvolumen aufweisen, wird in einem ersten Schritt versucht, die Blase manuell zu entleeren. Dies kann am Patienten in Seitenlage oder in einer unterstützten stehenden Position geschehen, je nachdem, was bequemer ist (Abbildung 1). Wenn der Patient beginnt, seine Bauchmuskeln anzuspannen, ist es wichtig, den manuellen Druck zu lockern, bis der Patient sich wieder entspannt, und dann den manuellen Druck erneut zu erhöhen. Mit anderen Worten heißt das, bei der manuellen Blasenentleerung sollte niemals versucht werden, den Widerstand des Patienten zu „brechen“.
Gelingt es nicht, die Blase ohne größeren Widerstand zu entleeren, besteht der nächste Schritt in einer Katheterisierung. Diese sollte so aseptisch wie möglich durchgeführt werden, und je nach Indikation unter Sedierung, um den Komfort des Patienten zu erhöhen. Bei männlichen Patienten ist die Katheterisierung einfach, bei weiblichen Tieren dagegen etwas schwieriger (Abbildung 2). In Fällen, in denen eine schwierige oder für den Patienten unangenehme Katheterisierung vorauszuahnen ist, empfiehlt sich das Einsetzen eines verbleibenden Silikon-Foley-Harnkatheter oder eines Zystostomiekatheter durch die Bauchdecke (Abbildung 3 und 4).