Selbst mit der Verbesserung landwirtschaftlicher Methoden war diätetisches Protein auf Fisch- oder Fleischbasis für den Menschen nach wie vor von besonders hohem Wert. Gefangene junge Wölfe und frühe domestizierte Hunde wurden also auch weiterhin mit einer Nahrung gefüttert, die meist nur geringe Mengen Proteine schlechterer Qualität enthielt, ergänzt durch menschliche Nahrungsreste, die zum wesentlichen Teil aus Fett und Kohlenhydraten zusammengesetzt waren. Diese Tiere erhielten regelmäßiger Nahrung als wild lebende Wölfe, so dass die Notwendigkeit eines kompetitiven Wettbewerbs um Nahrung sank und sich eine zunehmend festere Bindung zum Menschen auf der Grundlage der Fütterung entwickeln konnte.
Das natürliche Konflikt begrenzende Verhalten von Wölfen ist darüber hinaus auch eine wichtige Voraussetzung für ihre Fähigkeit, sich in menschliche Gemeinschaften einzufügen. Als Gefährten des Menschen oder Arbeitstiere wären domestizierte Hunde nicht tolerierbar, wenn sie sich ständig gewaltsam um Nahrung streiten würden.
Während die Domestikation fortschritt und Hunde allmählich ein integraler Bestandteil menschlicher Gesellschaften wurden, entwickelten sich neue Selektionsdrücke. Geselligkeit, Toleranz im Umgang mit Artgenossen und Menschen sowie eine Fähigkeit, auf kommunikative Signale des Menschen zu reagieren, wurden zunehmend wichtige Merkmale. Individuen, die solche positiven Eigenschaften nicht bereits frühzeitig erkennen ließen, wurden schlicht und ergreifend aus der Zuchtpopulation eliminiert. Dieser Selektionsprozess begünstigte in erster Linie den Erhalt typischer juveniler körperlicher und behavioraler Merkmale in das adulte Alter hinein (Neotenie), wie zum Beispiel Schlappohren, schwere hängende Backen, gesteigerte Verspieltheit, behaviorale Plastizität, reduziertes Konkurrenzverhalten und geminderte Aggressivität.
In einer Reihe von Experimenten über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren wurde gezeigt, dass die selektive Zucht auf Freundlichkeit bei Silberfüchsen zu erblichen Veränderungen der Soziabilität und der Abhängigkeit von Menschen führt, kombiniert mit Veränderungen der Fellfarbe und der Fellzeichnung, die den der Vermutung nach auch während der Domestikation des Hundes aufgetretenen Veränderungen ähneln 15 16 . Die selektive Zucht auf bestimmte Merkmale, die Hunde soziabel, trainierbar und für die Arbeit geeignet machten, hatte weitreichende Auswirkungen auf ihre Fähigkeit, Beziehungen zu Menschen einzugehen. So zeigen beispielsweise Haushunde und Kinder vergleichbare Fähigkeiten, Informationen von Gesichtsausdrücken anderer Menschen zu erkennen, aufzunehmen und zu verarbeiten 17. Bei Wölfen, die auf die gleiche Weise wie Haushunde durch Menschen aufgezogen werden, ist diese Fähigkeit dagegen nicht zu beobachten.
Die immer weitergehende artifizielle Selektion hat zur Verstärkung rassespezifischer Verhaltensweisen geführt. So zeigen bestimmte Rassen beispielsweise eine höhere Spezialisierung in bestimmten Teilen der Jagdverhaltenssequenz, zum Beispiel Hunde, die Vorstehverhalten oder Hüteverhalten bevorzugen. Einige dieser Verhaltenszüge wurden durch intensive Selektion in einem so hohen Maße verstärkt, dass sie bei einem wild lebenden Tier negative Auswirkungen auf das Überleben und die Fitness hätten. Evidenzen für diese Verzerrung des Jagdverhaltens stammen unter anderem aus Studien mit streunenden Hunden, die nicht in der Lage zu sein scheinen, kooperativ im Rudel zu jagen wie dies Wölfe tun, und stattdessen überwiegend von Abfällen abhängig sind 18. Im Bereich der Nahrung und des Ernährungsverhaltens führten zahlreiche natürliche und artifizielle Selektionsdrücke schließlich dazu, dass domestizierte Hunde in der Lage waren, auf der Grundlage einer fleischärmeren Nahrung zu überleben, dass sie weniger wählerisch bezüglich der Art ihrer Nahrung waren, eine Verschiebung von einem Ernährungsmuster nach dem Prinzip „Überfluss oder Mangel“ hin zu regelmäßigen Mahlzeiten akzeptierten und schließlich auch in geringerem Maße kompetitives Verhalten im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme zeigten. Letztlich tauschten diese Hunde im Laufe der Domestikation die Fähigkeit des effizienten Jagens in der Gruppe gegen die Fähigkeit, emotionale und kommunikative Signale des Menschen zu lesen und entsprechend darauf zu reagieren und auf diese Weise eine Beziehung zum Menschen zu entwickeln, die auf Fütterung und Verstärkung basiert.
Sättigung und Nahrungspräferenz
Bei herbivoren und omnivoren Spezies steht die Nahrungswahl in enger Verbindung mit Mechanismen, deren Ziel die Herstellung eines optimalen Makronährstoffgleichgewichts ist. Vermutet wurde, dass diese Mechanismen bei Carnivoren nicht notwendig sind, da man davon ausging, dass ihre Nahrung a priori ausgewogen und unveränderlich ist 19. Die hohe Diversität der Nahrung des Wolfes legt jedoch nahe, dass es auch bei dieser Spezies bestimmte Mechanismen einer Nahrungsselektion geben muss. Eine jüngste Studie zeigt, dass Haushunde bevorzugt Nahrungen auswählen, die ein Gesamtgleichgewicht von 30% Protein, 63% Fett und 7% Kohlenhydraten aufweisen (bezogen auf metabolisierbare Energie) 19. Dies unterscheidet sich sehr deutlich von der sehr viel stärker proteinbasierten Nahrung, die domestizierte Katzen wählen (52% Protein, 36% Fett, 12% Kohlenhydrate) 20. Hintergrund ist die obligat carnivore Natur der Hauskatze und das relativ höhere Protein:Fett-Verhältnis der Kleinsäuger (z. B. Mäuse), die die Grundlage ihrer natürlichen Ernährung bilden.
Zahlreiche Studien zeigen, dass Hunde dazu neigen, Nahrung über ihren eigentlichen Energiebedarf hinaus aufzunehmen. Wenn Hunde ad libitum gefüttert werden und die Wahl zwischen mehreren Nahrungskomponenten haben, regulieren sie ihre Proteinaufnahme und ihre Gesamtenergiezufuhr, der so regulierte Energielevel liegt dann aber etwa beim Doppelten ihres durchschnittlichen täglichen Bedarfes 19. Diese Beobachtungen legen nahe, dass Hunde angeborene Sättigungsmechanismen haben, die das Ergebnis einer Anpassung an die bei Wölfen vom Prinzip „Überschuss oder Mangel“ geprägte Nahrungsverfügbarkeit sind.
Ein Wolf frisst bei der ersten Mahlzeit nach der Tötung eines großen Huftieres bis zu 10 kg Fleisch 10. Vermutet wird aber auch, dass schnelles Fressverhalten bei Hunden während der Domestikation begünstigt wurde, da es hier oft eine große Konkurrenz um Nahrung gab 7, aber intraspezifische (innerartliche) und interspezifische (zwischenartliche) gewaltsame Auseinandersetzungen vom Menschen in diesem Zusammenhang nicht toleriert wurden. Dieses Phänomen hat unter anderem auch Auswirkungen auf die Gewichtskontrolle bei Hunden. Sättigung ist das Resultat einer Kombination von hormonellen und physischen Signalen aus dem Gastrointestinaltrakt, die anzeigen, dass ausreichend Nahrung aufgenommen wurde. Bei vielen Säugetieren, einschließlich Mensch, spielen bei der Sättigung eine Reihe von Hormonen wie Ghrelin, Cholecystokinin, Peptid YY (PYY), Oxyntomodulin und Adipokine eine Rolle. Evidenzen aus Studien mit dem Gewicht kontrollierenden Arzneimittel Dirlotapid, das über PYY wirken soll, zeigen, dass eine medikamentöse Beeinflussung des Sättigungsmechanismus beim Hund im Rahmen der Adipositasbehandlung wirksam sein kann 21.
Klar ist jedoch, dass Wölfe in vielen Situationen weiterfressen, bis die Magendehnung eine weitere Nahrungsaufnahme begrenzt. Dies scheint zumindest teilweise auch beim Hund zuzutreffen. Ein hoher diätetischer Fasergehalt, der zu vermehrter Magendehnung führt, hat nachweislich eine Steigerung der Sättigung und eine Abnahme der freiwilligen Nahrungsaufnahme sowohl kurzals auch mittelfristig nach einer Mahlzeit zur Folge, mit einem sogar noch deutlicheren Effekt, wenn die Nahrung neben dem hohen Faseranteil auch proteinreich ist 22. Untersuchungen zufolge hat eine so zusammengesetzte Diätnahrung vorteilhafte Wirkungen im Rahmen der Gewichtsreduktion bei Hunden 23.
Implikationen für domestizierte Hunde, die als Gesellschaftstiere gehalten werden
Problemprävention
Die richtige Sozialisation und Habituation während der sensiblen Lebensphase (im Alter zwischen 3 und 12 Wochen) gelten allgemein als der Schlüssel für eine gesunde Verhaltensentwicklung. Die Kenntnis der „Contrafreeloading“-Natur des Hundes und die Beibehaltung juveniler Verhaltensmuster bei domestizierten Hunden in das adulte Alter hinein weisen darauf hin, dass die Anwendung von Futterbelohnungen und die Fütterung im Allgemeinen für das Training und für die Entwicklung einer Bindung zu Hundewelpen die wahrscheinlich wirksamste Methode darstellt. Nach allem was wir über die Ethologie des Wolfes und des Hundes wissen, sind dominanzbasierte Methoden bei Hundewelpen nicht nur sinnlos, sondern möglicherweise sogar Angst auslösend.
Gestützt wird diese Hypothese unter anderem durch die Beobachtung einer reduzierten Aggressionsrate bei Hunden, die mit Hilfe der positiven Verstärkung über Futterbelohnungen trainiert werden, und einer gesteigerten Aufmerksamkeit von Hunden gegenüber Besitzern, die mit der positiven Verstärkung arbeiten 24. Das Training nach dieser Methodik hat nachweislich auch einige allgemeine vorteilhafte Effekte, wie zum Beispiel die Steigerung der Fähigkeit zur Problemlösung bei Hunden 25. Die verbesserte Fähigkeit, Probleme zu lösen, reduziert Frustration und das Bedürfnis eines Hundes, instinktiv zu handeln, wenn er sich mit einer Herausforderung oder einer Konfliktsituation konfrontiert sieht.
Die häufigsten gegen Besitzer gerichteten Aggressionsprobleme bei Hunden treten im Zusammenhang mit dem Bewachen und Verteidigen von Ressourcen auf. Viele Besitzer sind regelrecht geschockt, wenn ihr junger Hund erstmals sein Futter verteidigt. Das natürliche kompetitive Verhalten von Wölfen im Zusammenhang mit Nahrung und der Einsatz kommunikativer Signale zur Vermeidung kämpferischer Auseinandersetzungen sind ein Beleg dafür, dass das Verteidigen des Futters zu einem gewissen Grad ein normales Verhalten bei dieser Spezies darstellt. Hunde sollten deshalb im Zusammenhang mit der Fütterung generell nicht herausgefordert werden und nach Möglichkeit in Ruhe fressen dürfen. Dies widerspricht der traditionellen Sichtweise, nach der ein Besitzer seinen Hund im Zusammenhang mit der Fütterung wiederholt herausfordern sollte, bis dieser schließlich bereit ist, dem Besitzer seinen Futternapf freiwillig zu überlassen. Problematisch an dieser Strategie ist jedoch, dass diese traditionelle Methode dem Hund vermittelt, dass der Besitzer ein potenzieller Konkurrent ist, in etwa vergleichbar einem anderen Mitglied eines Wolfsrudels. Unter Umständen lernt der Hund auf diese Weise, dem Besitzer Futter zu überlassen, das sich durch eine eher bescheidene Schmackhaftigkeit und freie Verfügbarkeit auszeichnet. Da der Besitzer jetzt aber als Konkurrent betrachtet wird, wird der Hund jetzt eine sehr viel höhere Präferenz für nicht vom Besitzer angebotenes, gefundenes oder gestohlenes Futter mit höherem Fett- oder Proteingehalt entwickeln und dieses jetzt sehr viel entschlossener absichern, bewachen und verteidigen. Diese „illegale“ Nahrung ist nicht nur sehr viel schmackhafter, sondern spielt auch eine wichtige Rolle bei der Nahrungswahl des Hundes zugunsten von Fett und Protein. Es empfiehlt sich deshalb, einen positiven Zusammenhang zwischen der Anwesenheit des Besitzers und der Verfügbarkeit einer qualitativ hochwertigen Nahrung herzustellen, beispielsweise durch Zugabe geringer Mengen hochschmackhafter Snacks in den Napf, während der Welpe frisst (die zusätzlichen Snacks sollten aber maximal 10% des täglichen Kalorienbedarfs ausmachen).
Problematische Nahrungsaufnahme
Probleme im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme umfassen eine besonders gierige Nahrungsaufnahme, das Fressen von Abfällen und Speiseresten, Bettelverhalten und ein sehr wählerisches, mäkeliges Fressverhalten. Generell sollten wir erwarten, dass Hunde gierig fressen, aber auch Probleme wie wählerisches Fressverhalten können wir auf der Grundlage unserer Kenntnis ihres normalen Fressverhaltens erklären. Übliches Fressverhalten besteht oft in der schnellen Aufnahme großer Nahrungsmengen mit einer Mahlzeit, wobei die Magendehnung der wichtigste begrenzende Faktor ist. Die Suche und Aufnahme von Abfällen wird in erster Linie motiviert durch das Bedürfnis, zusätzliche Nahrungsquellen zu finden in Erwartung einer Hungerperiode, und Betteln und Stehlen von Nahrung sind gewissermaßen als eine Erweiterung des „Contrafreeloading“ zu verstehen. Hat ein Hund erst einmal gelernt, dass er durch einen Sprung auf die Arbeitsfläche in der Küche in der Lage ist, einen ganzen Braten zu stehlen, wird es dem Besitzer kaum gelingen, dieses Verhalten wieder auszulöschen. Die bei den meisten Hunden vorhandene allgemeine Neigung zum Überfressen bedeutet, dass es die Aufgabe der Besitzer ist, die Nahrungsaufnahme ihrer Hunde zu kontrollieren, und die Verantwortung für das Verhindern des Stehlens von Nahrung und des Bettelns zu akzeptieren und entsprechend wahrzunehmen.
Wählerisches, mäkeliges Fressverhalten wird letztlich von denselben zugrundeliegenden Mechanismen beeinflusst. Analysiert man die Tagesrationen wählerischer oder mäkeliger Hundewelpen, so stellt man oft fest, dass die Tiere tatsächlich insgesamt mehr als genug Kalorien bekommen, meist aber über das Betteln nach oft sehr fettreicher menschlicher Nahrung. Betroffene Hunde weigern sich dann oft, aus dem Napf zu fressen. Dieses Problem kann dann sowohl unter dem Gesichtspunkt der normalen Nahrungsselektion bei Hunden betrachtet werden als auch unter dem Aspekt des „Contrafreeloading“-Phänomens. Diese Hunde besitzen unter Umständen eine hohe Motivation, operante Verhaltensweisen an den Tag zu legen, wie zum Beispiel das Betteln um Nahrung. Eine sehr erfolgreiche Maßnahme für wählerische Fresser, Abfallsucher und Futterdiebe ist deshalb die Gabe sämtlicher Nahrung über sogenannte Puzzle- oder Activity-Feeder (z. B. „Futterball“) sowie die Anwendung von Trainingsmethoden, die das „Contrafreeloading“ und die Futtersuchaspekte des Ernährungsverhaltens verstärken (Abbildung 6).
Eine breite Auswahl unterschiedlicher Feeder-Modelle steigert die Komplexität und Diversität des Problemlösungs- und des Nahrungssuchverhaltens zusätzlich, was für Hunde mit problematischem Fressverhalten letztlich wichtiger ist, als die Schmackhaftigkeit des Futters oder eine breite Palette verschiedener Geschmacksrichtungen und Aromen.